#3: Biomechanische Ergebnisse zur Bewegungstechnik im Gewichtheben (Reißen)

von Dr. Ingo Sandau

Theoretischer Hintergrund und Anliegen

 

Im deutschen Gewichtheben wurden vorrangig Technikanalysen mithilfe von Bodenreaktionskraftmessungen sowie über die Messung der Hantelbewegung durchgeführt. Zur Aufklärung von Bewegungsfehlern der sportlichen Technik reichen diese Messungen jedoch nicht aus, weshalb zusätzlich Analysen der Körperbewegung notwendig sind.

 

Das Anliegen der Autoren ist es, anhand von Analysen der Körperbewegung im Reißen Fehlerbilder zu objektivieren und daraus Empfehlungen für eine optimale sportliche Technik abzuleiten.

 

Untersuchung

 

Die Wissenschaftler führten bei internationalen und nationalen Wettkämpfen dreidimensionale (3D) Analysen der Körperbewegung im Reißen durch. Die 3D-Auswertung der Körperbewegung erfolgte über eine Videobildanalyse mit zwei Kameras. Mittels der Videobilder der beiden Kameras wurden Körperpunkte (Hand, Ellenbogen, Schulter, Hüfte, Knie, Knöchel, Ferse, Fußspitze) und die Hantel digitalisiert. Über die digitalisierten Punkte konnten Körperwinkel, Winkelgeschwindigkeiten sowie Hantelwege und Hantelgeschwindigkeiten in einzelnen Bewegungsphasen berechnet werden. Das Reißen wurde für die Auswertung in drei Bewegungsphasen eingeteilt: I. Startphase/Start, II: Beschleunigungsphase, III. Umgruppieren, Abbremsen und Sitzposition. Die Beschleunigungsphase wird zusätzlich in die 1. Zugphase, die Kniepassage und die 2. Zugphase als Teilbewegungsphasen untergliedert.

Abbildung 1

Ergebnisse und sportpraktische Ableitung

 

I. Startphase und Startposition:

Nach Aussagen der Autoren ist die Startposition (Körperhaltung im Moment des Abhebens der Hantel vom Boden) für die Beschleunigung der Hantel von entscheidender Bedeutung, da hier die Voraussetzungen für eine optimale Kraftübertragung auf die Hantel über eine optimale Körperbewegung geschaffen werden. Empfehlungen für eine optimale Startposition sind Abbildung 1 zu entnehmen. Bei Bedarf kann in der Startphase (Phase vor dem Abheben der Hantel vom Boden) eine Auftaktbewegung genutzt werden, um über die gesteigerte Muskelspannung die Kraftwirkung auf die Hantel zu Beginn der Hebung zu erhöhen.

 

II. Beschleunigungsphase:

Das Ziel der Beschleunigungsphase ist es, die Hantel auf eine individuell notwendige maximale vertikale Geschwindigkeit (vmax) zu beschleunigen. Hierfür muss gewährleistet sein, dass weder zu hohe noch zu niedrige Beschleunigungen und damit Kräfte in den einzelnen Teilbewegungsphasen der Beschleunigungsphase auftreten bzw. aufgebracht werden. Besonders in der Kniepassage ist oft ein erheblicher Beschleunigungsverlust anzutreffen, der eine Reduktion der vertikalen Hantelgeschwindigkeit zur Folge hat und deshalb einen sporttechnischen Fehler darstellt. Die Analysen haben ergeben, dass ein Geschwindigkeitsverlust in der Kniepassage entsteht, wenn in der 1. Zugphase eine zu starke Beschleunigungswirkung auf die Hantel gebracht wird und dadurch am Ende der 1. Zugphase (kurz oberhalb vom Knie) eine zu große vertikale Hantelgeschwindigkeit entsteht. Des Weiteren kann auch die zu große Öffnung des Kniewinkels oder ein Vorkippen des Oberkörpers (Gesäßheben) in der 1. Zugphase zu einem Geschwindigkeitsverlust in der Kniepassage führen. Den Wissenschaftler gelang es aufzeigen, dass die Startposition mit der Gestaltung der Körperbewegung und der Beschleunigungswirkung an der Hantel in einem kausalen Zusammenhang steht. Ein kleiner Kniewinkel am Start führt in der 1. Zugphase zum Gesäßheben und einer reduzierten Beschleunigungswirkung. Ein zu großer Kniewinkel am Start führt dagegen in der 1. Zugphase zu einer zu starken Öffnung des Rumpf- und Kniewinkels mit einer hohen Anfangsbeschleunigung (Abb. 2). Beide Varianten standen wiederum mit einem Geschwindigkeitsverlust in der Kniepassage in Zusammenhang, da sie ungünstige Voraussetzungen für die Gestaltung der Kniepassage darstellen. Aus diesem Grund empfehlen die Autoren eine moderate aber stetige Hantelbeschleunigung auf eine vertikale Hantelgeschwindigkeit von ca. 130 cm/s (v1) zum Ende der 1. Zugphase bei gleichzeitiger Öffnung des Knie- und Hüftwinkels und konstantem Rumpfwinkel („Parallelverschiebung“ des Rückens) (Abb. 1).

In der Kniepassage sollte aus einer optimalen Position zum Ende der 1. Zugphase bei weiterer Öffnung des Hüftwinkels der Kniewinkel nur leicht reduziert werden. Diese Bewegungsausführung garantiert, dass die Beschleunigungswirkung an der Hantel während der Kniepassage aufrechterhalten werden kann und kein Geschwindigkeitsverlust an der Hantel entsteht (v2). Diese Bewegungsausführung ist allerdings nur möglich, wenn zum Ende der 1. Zugphase eine günstige Körperposition eingenommen wird. Als Orientierung für die vertikale Hantelgeschwindigkeit in der Kniepassage gilt: v2 ≥ v1 (v2 ca. 130-137 cm/s).

In der 2. Zugphase erfolgt die finale Beschleunigung der Hantel auf die maximale vertikale Geschwindigkeit (vmax) durch ein synchrones Öffnen der Gelenkwinkel in Knöchel, Knie und Hüfte bei völlig gestreckten Armen. Für eine effiziente Hebung sollte die vmax bis 100 kg Körpergewicht ca. 165-185 cm/s und bei einem Körpergewicht über 100 kg ca. 174-185 cm/s betragen. Orientierungswerte für Körperwinkel zum Ende der 2. Zugphase sind in Abbildung 1 dargestellt.

 

III. Umgruppieren, Abbremsen und Sitzposition:

Unmittelbar nach vmax begibt sich der Sportler möglichst schnell aus der gestreckten Position über eine stützlose Flug-/Senkphase in die Hockposition. Die Abwärtsbewegung muss dabei mit einer Armzug-Druckbewegung unterstützt werden. Dieser Armeinsatz bewirkt einen weiteren Auftrieb der Hantel nach vmax (die sogenannte „Restarbeit“). Die Autoren empfehlen eine möglichst tiefe Hockposition damit die vmax reduziert und gleichzeitig die Ökonomie der Hebung gesteigert wird. Auf dem Weg in die Hockposition darf sich die Hantel möglichst wenig im freien Fall nach unten befinden, damit die vertikale Senkgeschwindigkeit (vmin) der Hantel nicht zu groß wird. Ein optimaler Senkweg der Hantel nach dem oberen Umkehrpunkt bis in die Tiefhocke wurde mit ca. 8-13 cm bei einer vmin von ca. 45-65 cm/s angegeben. Nachdem der Sportler die Hantel in der tiefen Hockposition zur Ruhe gebracht hat erfolgt das Aufstehen aus der Sitzposition in den parallelen Stand.

Abbildung 2

Rezension

 

In dem vorgestellten Artikel gelingt es den Autoren erstmals darzulegen, dass die Startposition beim Abheben der Hantel vom Boden für die Gestaltung der Beschleunigungsphase von essentieller Bedeutung ist. In der Startposition werden die Anfangsbedingungen für die Körperbewegung und damit die Kraftübertragung auf die Hantel „eingestellt“. Deshalb muss die Startposition auch beim Technikerwerbsprozess besonders berücksichtigt und geschult werden. Treten bereits am Start Fehler auf, so wirken sich diese Fehler als Folgefehler auf die weiteren Teilbewegungsphasen (1. Zugphase, Kniepassage, 2. Zugphase) der Beschleunigungsphase aus (bspw. der Geschwindigkeitsverlust an der Hantel in der Kniepassage). Im Umkehrschluss sind deshalb Fehlerbilder in den einzelnen Teilbewegungsphasen oftmals Fehler der vorherigen Teilbewegungsphase und haben selten ihre Ursache in der Teilbewegungsphase in der sie auftreten. Für die Fehlerkorrektur gilt deshalb der Hinweis, dass oft die Fehlerursache in vorgelagerten Teilbewegungsphasen zu finden ist. Es kann also ein Fehler in der 2. Zugphase beseitigt werden, wenn bspw. die Startposition und die Ausführung der 1. Zugphase optimiert wird.

 

Die vorgestellte Untersuchung wurde mit dem Ziel durchgeführt, Orientierungen für eine zweckmäßige Körper- und Hantelbewegung abzuleiten. Die abgeleiteten Orientierungswerte für die Körperbewegung in der Beschleunigungsphase des Reißens sind in Abbildung 1 dargestellt. Sie sind die Grundlage für das vom BVDG/OSP-Berlin/IAT herausgegebene „Technikleitbild“ im Reißen, welches in 2011 mit aktuellen 3D-Analysen vom OSP-Berlin präzisiert wurde. Die Orientierungswerte entsprechen also tatsächlichen Lösungsvarianten aus der Praxis, basieren allerdings auf gemittelten Gruppendaten. Demzufolge bedeutet es nicht, dass alle Orientierungswerte der Körperhaltung (Winkel, Schultervorlage) für jeden Sportler exakt übernommen werden sollten. Ein „Technikleitbild“ stellt nur eine Orientierungsgrundlage dar, keine Schablone. Aufgrund unterschiedlicher anthropometrischer Gegebenheiten (Segmentlängen) und Kraftvoraussetzungen eines Sportlers muss eine sportliche Technik auch individuell „eingestellt“ werden. Die Orientierungswerte helfen dabei „grob“ die richtige Körperposition einzunehmen. Die „Feinabstimmung“ muss dann im Einzelfall erfolgen. Somit kann eine optimale Beschleunigungsphase auch mit einem Rumpfwinkel von 143° oder 156° statt der 150° aus dem „Technikleitbild“ ausgeführt werden. Fakt ist jedoch, dass ein Rumpfwinkel in der 1. Zugphase von 120° oder 165° zu keinem optimalen Resultat führt und sporttechnische Fehler vorprogrammiert sind.


Böttcher, J. & Deutscher E. (1999). Biomechanische Ergebnisse zur Bewegungstechnik im Gewichtheben (Reißen). Leistungssport, 29 (4), 55-62. [LiDa]


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